Gespräche mit einem Weggefährten
Michail Gorbatschow habe ich leider nie persönlich kennengelernt. Durch eine private Freundschaft mit einem seiner engsten Berater, Prof. Jury Andrejewitsch Ossipian konnte ich dennoch in vielen Gesprächen über die Ideen erfahren, die Gorbatschow als Grundlage für seine politischen Ziele hatte.
Prof. Ossipian war Physiker mit einem eigenen Institut für Festkörperphysik in der Nähe Moskaus. Er war Vizepräsident der sowjetischen Akademie der Wissenschaften und als Präsidialrat wissenschaftlicher Berater von Gorbatschow. Nach seiner Wahl zum Präsidenten der Gesellschaft Russland - Deutschland hatte er den Wunsch geäußert, mit seiner Gattin Ludmilla für zwei Wochen nach Bayern zu kommen. Da ich damals mit meinem Reiseunternehmen Vertragspartner von Intourist Moskau und darüberhinaus als Vizepräsident der Gesellschaft Russland - Deutschland (die heute als „Bayerische Ostgesellschaft“ weiterlebt) war, wurde ich gebeten, Prof. Ossipian für diesen Besuch Bayerns einzuladen.
Zunächst wusste ich nicht, welche Rolle Prof. Ossipian in der Sowjetunion spielte. Am Abend seiner Ankunft luden meine Frau und ich das Ehepaar Ossipian und meine Eltern zu einem Abendessen in das Restaurant Seehaus ein. Es war ein schöner Abend, der Biergarten war gut besucht. Prof. Ossipian gefiel das sichtlich, er sagte zu seiner Frau: „Das würde Raissa und Michail auch gut gefallen“. Dies war für mich ein erster Hinweis. Als ich kurz danach wieder nach Moskau kam, wurde seine Bedeutung klar. Ich wurde direkt am Flugzeug mit einer Staatslimousine abgeholt und mit Blaulicht und Sirene auf der damals reservierten „Politik-Spur“ in die Moskauer Innenstadt gefahren.
In vielen privaten Gesprächen haben wir uns über die Neuausrichtung der sowjetischen Politik unterhalten. Glasnost und Perestroika waren ja die „Zauberworte“, die den Wandel einleiteten. Allerdings, und da gab mir Prof. Ossipian recht, wusste man praktisch nichts über die wirtschaftlichen Abläufe. Der Staatskonsum - Militär, Geheimdienst, viele Sozialleistungen - fraß den größten Teil des Bruttosozialprodukts. Man war sich auch nicht klar darüber, aus welcher Quelle die Staatsfinanzen kamen. Vom Arbeitslohn wurde eine Pauschalsteuer von 7% einbehalten. Die Löhne bewegten sich damals im niedrigen dreistelligen Rubelbereich.
Eine erste Maßnahme Gorbatschows war die Anti-Alkohol-Kampagne. Wie üblich, wurde das Übel mit der Wurzel ausgerottet: Weinreben wurden vernichtet, Flaschenfabriken zerstört. Aber das größte Problem zeigte sich bald: die Alkoholsteuer war eine der wichtigsten Einnahmequelle des Staates. Man konnte aber auch nicht auf die vermeintlich vorhandene Goldreserve zurückgreifen. Diese war von Breschnew genutzt worden, um mit im Ausland gekauften Konsumgütern die Unzufriedenheit der Bevölkerung zu besänftigen. Am Ende der Ära Breschnew waren von ursprünglich über 2.000 Tonnen angeblich nur noch zwei Tonnen Gold in den Tresoren.
Darüber hinaus war auch über Jahre (und Jahrzehnte) versäumt worden, mit Investitionen die Industrie zu modernisieren. In Moskau wurde z. B. noch in den 80er Jahren das Brot mit deutschen Backöfen gebacken, die Mitte der 20er Jahre hergestellt worden waren. Prof. Ossipian beklagte des Öfteren den Umstand, dass man wegen der westlichen Restriktionspolitik nicht die modernste Technologie beschaffen konnte. Ich hatte damals vorgeschlagen, es doch mit gebrauchten Maschinen zu versuchen, die genauso eingesetzt werden konnten, allerdings einen höheren Personalaufwand erforderten. Mein Argument war auch, dass damit auch die Arbeitsabläufe verständlich gemacht werden.
Ende der 80er Jahre wurde immer deutlicher, dass die Sowjetunion nicht mehr mit den westlichen Ländern mithalten konnte. Eine Konsolidierung schien nur noch möglich durch ein liberaleres Herangehen bei der Behandlung der sozialistischen Satellitenstaaten. Im Inneren gab es allerdings schon damals große Widerstände. Hardliner der Nomenklatur sahen ihre Einflussmöglichkeiten schwinden und versuchten, ihren Einfluss zu retten.
Hierzu hatte ich ein interessantes Gespräch mit Prof. Ossipian. Ich sagte ihm, dass im Westen die Meinung herrsche, dass, wenn der Generalsekretär an einem Faden zieht, in Wladiwostok die Wände wackeln. Die Antwort war ein lautes Lachen. Verwundert fragte ich, warum. Ja, sagte er, genau darüber habe ich mich vor zwei Tagen mit Michail unterhalten. Das Resultat war: „Wir wissen es auch nicht“. Es gab schon damals auf vielen Ebenen Querverbindungen und Netzwerke, die niemand richtig durchschaute. Immer involviert war natürlich das KGB.
Gorbatschow wollte ursprünglich keinen Systemwechsel, er war angetreten, das System – wie es Dubcek im Prager Frühling 1968 versuchte – menschlicher und offener zu machen. Erst im Laufe der Zeit wurde ihm bewusst, dass dieses feudale System nicht reformiert werden kann. Durch die Aufgabe der Herrschaft über die nach Freiheit strebenden Staaten in Osteuropa versuchte er, eine Änderung auch im eigenen Staat herbeizuführen. Dies gelang nicht, 1991 putschten Teile der Streitkräfte, des KGB und der Streitkräfte des Innenministeriums. Diesen Putsch beendete Jelzin durch sein beherztes Auftreten vor dem Weißen Haus in Moskau. Allerdings war dies dann auch der Beginn des Zerfalls der Sowjetunion.
Hermann Pönisch