20 Jahre EU Osterweiterung
„Die Botschaft ist: Mehr Europa ist die Lösung und nicht weniger Europa“
Begrüßung durch den „Hausherrn“
In Vertretung von Frau Prof. Dr. Maria Pryshlak, Rektorin der Ukrainischen Freien Universität begrüßte Kanzler Dmytro Shevkenko als Gastgeber die Gäste. In seinem kurzen Statement betonte er die Hinwendung der Ukraine nach Europa und den daraus resultierenden Wunsch, so bald wie möglich Mitglied in der Europäischen Union zu werden.
Keynote Markus Ferber MdEP
In seiner Keynote sprach Markus Ferber, Mitglied des Europäischen Parlaments, über Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft der Europäischen Union, gerade im Kontext der neuerlichen Diskussion über die Aufnahme neuer Mitgliedsstaaten und der aktuellen geopolitischen Herausforderungen.
Ferber begann mit einem Rückblick auf die Zeit des Eisernen Vorhangs, symbolisiert durch den Stacheldraht, der Europa in Ost und West teilte. Er erinnerte an die intensiven Verhandlungen zur Erweiterung der EU nach dem Fall des Eisernen Vorhangs in den 1990er Jahren, zunächst mit Österreich, Schweden und Finnland. Diese Länder traten 1995 der EU bei.
Ein zentraler Punkt seines Vortrags war der 20. Jahrestag der EU-Erweiterung 2004, bei der zehn neue Mitgliedsstaaten und 2007 noch Bulgarien und Rumänien beigetreten sind, der entscheidende Schritt zur Überwindung der Teilung Europas.
Ferber zeigte auf, dass die Erweiterung für beide Seiten mit der Überwindung vieler Hindernisse verbunden war. Die grundlegende Voraussetzung die Einhaltung rechtsstaatlicher Prinzipien und des Acquis communautaire der EU, möglich war.
Ganz aktuell sprach Ferber die aktuelle Einstellung des Verfahrens gegen Polen wegen Bedenken zur Rechtsstaatlichkeit an. Dies verdeutliche die anhaltende Herausforderung, dass alle Mitgliedsstaaten die grundlegenden Werte der EU respektieren müssen.
Die Notwendigkeit der Harmonisierung von Vorschriften innerhalb der EU führt zu Anpassungsprozesse,en die notwendig sind, um dem Druck des Binnenmarktes und dem Wettbewerbsdruck standzuhalten. Diese Prozesse seien unerlässlich für die Integration neuer Mitgliedsstaaten.
Vor zukünftigen Erweiterungen müsse die Struktur der EU angepasst werden, betonte Ferber. Dies wurde vor den ersten Beitrittswellen versäumt. Er unterstrich die Notwendigkeit, die EU-Strukturen effizienter zu gestalten, um die Handlungsfähigkeit zu bewahren. Ein Beispiel sei die Diskussion über die Verkleinerung der Europäischen Kommission.
Ferber ging auch auf die geopolitischen Herausforderungen ein, vor allem den Krieg Russlands gegen die Ukraine. Er betonte, dass die EU ihre Interessen im Westbalkan deutlicher vertreten müsse, insbesondere angesichts des Einflusses anderer Akteure wie Russland und China.
Der Krieg in der Ukraine hat die Situation verändert und die Diskussion über eine mögliche EU-Erweiterung neu entfacht. Ferber sprach über den Kandidatenstatus von Ländern wie Nordmazedonien und die damit verbundenen Probleme.
Lösungsansätze und Strukturfragen innerhalb der EU
Ferber nannte verschiedene Punkte zur Lösung der aktuellen Herausforderungen: Einstimmigkeit bei Entscheidungsprozessen, Mindestanzahl von Abgeordneten für kleine Länder, und die Struktur der Kommission, bei der jedes Land einen Kommissar stellt. Es gehe darum, das System neu auszutarieren und die Zuständigkeiten klar zu definieren. Ein zentrales Problem sei das fehlende Vertrauen zwischen den Mitgliedsstaaten und der Staaten gegenüber der Kommission.
Zum Abschluss plädierte Ferber für eine grundlegende Reform der EU-Strukturen, möglicherweise eher revolutionär als evolutionär. Er betonte, dass die Welt nicht auf Europa warte. Die EU muss auf neue Füße gestellt werden, um den aktuellen und zukünftigen Herausforderungen gerecht zu werden.
Paneldiskussion
Die anschließende Paneldiskussion leitete Dr. Benjamin Hahn. In seiner kurzen Einführung ließ er die Geschichte der EU von den Anfängen als Montanunion 1951 bis heute Revue passieren und verwies auf die Herausforderungen in der Zukunft.
Generalkonsulin Maša Šiftar stellte fest, dass der EU-Beitritt Sloweniens eins Erfolgsstory ausgelöst hat. Viele Infrastrukturprojekte konnten in Angriff genommen werden, die Lebensqualität betrug 2004 68% und heute 82 % des EU-Durchschnitts. Das Bruttosozialprodukt pro Kopf hat sich verdoppelt.Der Euro brachte für das Export orientierte Land ein Vervielfachung des Handels, mit EU-Staaten das Fünffache, mit Drittländern eine Verdoppelung. Mit Schengen kam das Erlebnis der Freizügigkeit: freie Wohn- und Arbeitswahl, Studieren im Ausland.Ihr Fazit: „Wir leben EU“
Prof. Dr. Gerhard Sabathil machte auf Probleme am Beispiel von Polen und Ungarn aufmerksam, die auf der Geschichte dieser Länder beruhen: die mehrfache Teilung Polens zwischen Deutschland und Russland, der ungarische „Phantomschmerz“ auf Grund des Verlustes von großen Landesteilen 1919. Daneben ist vor allem in Ungarn die fehlende demokratische Tradition, niedrigen Fremdsprachenkenntnissen und Bildungsgrad zu bedenken.
Toni Hinterdobler stellte als früherer Hauptgeschäftsführer der Handwerkskammer Niederbayern/Oberpfalz fest, dass nach ursprünglichen Ängsten auf beiden Seiten der Grenze eine schnelle Anpassung stattfand. Neue Geschäftsfelder und Chancen ergaben sich gerade für Mittelstand und Handwerk.Generell gilt für alle Beitrittskandidaten die Erfordernis, den Mittelstand zu qualifizieren, zu beraten und zu unterstützen.Die Tschechische Republik und die Slowakei waren beitrittsreif. Als Hemmnisse stellte sich heraus, dass nicht alle Vorschriften problemlos (Hygiene, Rechtsbereich etc.) schnell umgesetzt werden konnten.Er betonte die Erfolge „Arge 28“: 28 IHKs und HWKs entlang der Beitrittsgrenze schlossen sich zu einer Arbeitsgemeinschaft zusammen.Sein Fazit: Ängste wurden abgebaut, Chancen wurden genutzt, Dynamik hat ausgestrahlt nach ganz Bayern und Deutschland. Allein die bayerische Wirtschaftsleistung stieg um 37 % zwischen 2011 und 2021.
Dr. Hahn brachte noch das Problem des „Brain Drain“ zur Sprache. GK Šiftar sagte dazu, dass in Slowenien dieses Problem nicht besteht, die Leute leben gerne zu Hause, sind mit ihren Lebensumständen und den beruflichen Möglichkeiten zufrieden.
Markus Ferber wies auf einen wichtigen Vorteil für Bayern hin: Bayern ist von der Randlage in die Mitte Europas gerückt. Die anfänglichen Ängste in Deutschland wegen Überflutung durch Arbeitssuchende aus den Beitrittsländern haben sich ebenso wenig bemerkbar gemacht wie die Angst vor den neuen reichen Nachbarn in den Beitrittsländern, die die Ländereien aufkaufen. Von der Arbeitnehmerfreizügigkeit hat anfangs vor allem Großbritannien profitiert, durch den Brexit werden dort jetzt Arbeitskräfte in wichtigen Sektoren (Gesundheitswesen) wieder knapp. Aus in der Logistik gab es Konflikte. Das Problem der sog. „Kabotage“, d. h. das Verbot von Transporten innerhalb eines anderen Landes wurde nach langen Verhandlungen gelöst.Anmerkung des Verfassers: Die vielen LkWs mit Kennzeichen aus den Beitrittsländern gehören zumeist westlichen Spediteuren, die ihr Flotten ausgeflaggt haben, um Kosten zu sparen.
Warum gibt es innerhalb der EU soviel Vorbehalte für eine weitere Erweiterung?
Prof. Sabathil stellt fest, dass die Reformkraft der potentiellen Beitrittskandidaten teilweise zu wünschen übrig lässt. Im Moment fehlt die Vertrauensbasis gegenüber den Führern der Balkanländer. Ein weitere Problem ist das Fehlen von Führungspersönlichkeiten.Problemfelder sind auch vor allem Korruption und fehlende Rechtsstaatlichkeit.
Die geopolitischen Schocks der jüngsten Vergangenheit haben die Diskussion um den Beitritt weiterer Staaten wieder in den Vordergrund gerückt, ja die Notwendigkeit einer Erweiterung klar gemacht.
GK Šiftar stellt klar fest: der Westbalkan ist Europa, wir Slowenen wollen diese Länder unbedingt in der EU sehen.
Toni Hinterdobler betont, es ist sicher zu stellen, dass die Länder beitrittsreif sind. Die Strukturfonds müssen administrativ verwaltet und überwacht werden. Die Vorbereitung muss über die Menschen: der Mittelstand in Beitrittsländer muss gestärkt werden, um die Menschen mitzunehmen.Die Länder müssen stufenweise herangeführt werden, gute Entwicklung angestoßen werden.
Was muss die EU den Staaten bieten, welche Institutionen müssen angepasst werden?
Markus Ferber verweis auf das Modell im EZB-Rat. Es wird nicht darstellbar sein, dass jedes Land einen eigenen Kommissar stellt. Im Europäischen Parlament müssen ggf. die Basismandate abgesenkt werden und die Sitzverteilung neu geregelt werden. Im Rat ist das Problem der generellen Einstimmigkeit zu lösen. Um im geopolitischen Umfeld als erkennbarer und einflussreicher Spieler gesehen zu werden, wird eine komplette Übertragung von Kompetenzen an die EU (z. B. Außenpolitik) erforderlich sein.Generell muss man die Chancen einer Erweiterung sehen. Ängste die 2004 gesehen wurden, haben sich nicht bewahrheitet. Die Handlungsfähigkeit der EU aber muss gewährleistet sein.
In der sich anschließenden allgemeinen Diskussion wurde die Frage nach dem Verhältnis zum ungarischen Ministerpräsidenten Organ gestellt. Markus Ferber verwies in diesem Zusammenhang auch auf Versäumnisse von Seiten der EU: Ungarn ist energiepolitisch ausschließlich abhängig von Russland, ein Angebot von europäischer Seite, dies zu ändern, fehlt bislang.Angesprochen als wichtige Themen wurden die Notwendigkeit der politischen Einigung und die Bildung einer Sicherheitsunion. Daneben wartet der Agrarbereich weiter auf eine grundlegende Reform.
Schlusswort Präsident Eberhard Sinner
Präsident Sinner richtet seinen Dank an die Ukrainische Freie Universität, Frau Rektorin Prof. Dr. Maria Pryshlak und Kanzler Dmytro Shevchenko, am den Referenten Markus Ferber und die Teilnehmer am Panel, Generalkonsulin Maša Šiftar, Slowenien, Prof. Dr. Gerhard Sabathil, Toni Hinterdobler und Moderator Dr. Benjamin Hahn.
Seit dem Fall des Eisernen Vorhangs kam die Wiedervereinigung Europas voran. Europa definiert sich nicht nur durch Geographie, sondern vor allem durch Werte. Europa ist auf drei Hügeln gebaut: Kapitol, Akropolis und Golgatha, die für Rechtsstaat, Demokratie und christlich-jüdische Wurzeln stehen.
Diese Woche ist das orthodoxes Osterfest, der Tag der Kapitulation, der Europatag. Der 9. Mai 1950 mit der Rede Robert Schumann ist Geburtstag und Grundstein der EU.
Die Osterweiterung 2004 war für Beitrittsländer keine Heimkehr nach Europa, was die Geographie betrifft - alle Länder lagen auch vorher in Europa, sondern Rückkehr zu den Wurzeln. Nach 20 Jahren ist die Bilanz positiv! Wirtschaftlich, politisch, menschlich. Eine WinWin Situation für die EU und die Beitrittsländer.
Im Jahr 2004 erschien von Jeremy Rifkin das Buch „The European Dream“ versus „The American Dream“. Eine Würdigung der EU als erfolgreiches politisches Projekt. An diesem Erfolg haben Osteuropäer ihren Anteil. Lech Wałesa, Václav Havel, Guyla Horn sind hier beispielhaft zu nennen.
Auch heute wollen weitere Staaten in EU. Die Rein - Raus Bilanz ist 9 : 1!
Nur UK hat den Brexit gewagt. Die ehrliche Bilanz heute bei vielen Briten: Brexit ist BrexShit, so Nigel Kennedy, Teufelsgeiger im Arsenal Trikot bei einem open air Konzert.
Wie 2004 gilt auch 2024:
Beitrittskandidaten müssen Kopenhagen Kriterien erfüllen
Strukturreformen müssen EU aufnahmefähig machen
Binnenmarkt muss Treiber für Innovation und Wachstum sein.
Geopolitisch ist China Systemrivale. USA ist Wettbewerber innerhalb des Systems. „Make America Great Again“ Trumps Wahlspruch ist so süffig wie falsch, weil er den Multilateralismus negiert. Russland greift die gesamte Weltordnung an und setzt brutalste Gewalt gegen alle Werte Europas ein.
In ganz Europa und auch global ist rechtsradikaler Nationalismus auf den Vormarsch. Das sind fundamentale Unterschiede zur Ost-Erweiterung 2004 bis 2007.
Deshalb:
Sicherheitspolitik im weitesten Sinn hat Priorität!
Binnenmarkt muss wettbewerbsfähiger werden bei Wachstum und Innovation. Dazu aktuell ist das Gutachten von Mario Draghi.
Weniger Kompetenzen für EU insgesamt - Subsidiaritätsprinzip, aber komplette Übertragung von wesentlichen Kompetenzen zum Beispiel in der Außenpolitik auf EU macht Sinn.
Größere Handlungsfähigkeit durch Mehrheitsprinzip mit weniger Vetoblockaden muss das Ziel sein.
Die Botschaft ist:
Mehr Europa ist die Lösung in der Globalisierung und nicht weniger Europa
Franz Josef Strauß schrieb schon 1968 in seinem Buch „Ein Programm für Europa“: „Nationalstaat im 20 Jh. ist Anachronismus“.
Ähnlich Mario Draghi in der Bolognarede am 22. Februar 2019: „Nationalstaaten müssen Unabhängkeit abgeben, um Souveränität in der Globalisierung zu gewinnen“.
Die Frage ist: Wollen Europäer Spieler oder Ball sein?
Draghi 2019: „16,5 % der weltweiten Wirtschaftsleistung entfallen auf die EU. Nur Chinas Anteil ist größer. Die europäischen Länder haben aber einen großen Binnenmarkt, der sie in gewissem Maße vor Handelskrisen abschirmt. Der Anteil der EU am Welthandel beläuft sich auf 15 % gegenüber etwa 11 % für die Vereinigten Staaten. Die EU verfügt also in internationalen Handelsgesprächen über ein erhebliches Gewicht. Und der Euro ist die am zweithäufigsten gehandelte Währung der Welt, was die Wirtschaft des Euroraums gegen Wechselkursschwankungen schützt.“ Abgabe von Unabhängigkeit von Nationalstaaten an EU gibt den Nationalstaaten und den Bürgern der Nationalstaaten Souveränität in der Globalisierung.
2004 war es für die neuen Mitgliedstaaten schwierig, nach Gewinn der Unabhängigkeit sofort wieder Unabhängigkeit abzugeben.
Die baltischen Staaten feierten 2018 hundert Jahre Republik. Aber die kürzeste Zeit während dieser 100 Jahre waren sie wirklich Republik. Lebenschancen für die Menschen in Riga, Vilnius, Tallinn waren nie größer als heute in der EU. Das gilt auch für die russischen Bürger, die dort leben. Jedem Russen in der EU geht es besser als jedem Russen in Russland! Aus Sicht Putins ist das ein Problem.
EU ist ein Friedensprojekt auf freiwilliger Basis, nicht mit einem imperialen Anspruch.
Der Putinismus will dieses Projekt zerstören. Deshalb ist die Ukraine Testfall für die Resilienz und Stabilität des europäischen Wertefundaments.
In der Ukraine wird sich entscheiden, in welcher Weltordnung und Wertordnung wir morgen leben. Der „Heilige Krieg“ - so Patriarch Kyrill - gegen den dekadenten Westen wird wieder am 9. Mai zelebriert werden. Einen krasseren Gegensatz zu den europäischen Werten gibt es kaum.
Dagegen hilft nur das Zusammenwirken der EU und der europäischen Bürger mit den Beitrittskandidaten. Es gilt schon vor dem Beitritt: Zusammen bewirken wir mehr als nur die arithmetische Summe der Einwohner oder der Bruttoinlandsprodukte. Arbeiten wir daran, dass der Europäische Traum lebendig bleibt und auch in den Länder, die Beitrittskandidaten sind, Wirklichkeit wird!